Pflegende Eltern sein

Es ist wie es ist. Heute, etwa zweieinhalb Jahre nach der Diagnose meines Kindes, sehe und begreife ich: Wir sind tatsächlich pflegende Eltern. Wir haben ein Kind mit Behinderung. 

Diese Sätze klar und deutlich zu schreiben und so auch aussprechen zu können, ist hart. Hart, weil wir davor keine Ahnung hatten, was es bedeuten würde, wenn ein Familienmitglied behindert ist. Und: Weil diese Begriffe, die wir irgendwann mal gelernt haben, rein gar nichts damit zu tun haben, wie das Leben für uns ist.

Behinderung - was heißt das eigentlich?

Was habe ich früher über Menschen mit Behinderung gelernt? Richtig, nicht viel! Ich bin geprägt von Menschen mit Behinderungen, die sichtbar sind. Das sind eher die offensichtlichen Behinderungen:

– Menschen, die auf ihren Rollstuhl oder andere Hilfen angewiesen sind, um sich fortzubewegen

– kleinwüchsige Menschen

– Menschen mit Hörhilfe

– ältere Menschen, die allein aufgrund ihres Alters beeinträchtigt sind

Typische Zahnputz-Situation halt: Kinder haben keinen Bock, wir überreden sanft. Manchmal landet im Durcheinander aus Versehen ein Finger in Papas Auge. – Foto aus einer Day in the Life-Reportage von Anna Meyer-Kahlen aus Düsseldorf

Eine Behinderung, die erst auf den zweiten Blick sichtbar wird – nämlich im Verhalten – kannte ich im Grunde nicht. Ja, ich wusste, es gibt Menschen mit geistiger Behinderung. 

Aber mir war nicht klar, dass es auch schlichte Andersartigkeiten des Gehirns gibt. Und dass das sehr oft eben nichts mit einer Intelligenzminderung zu tun hat. (Manchmal natürlich schon.)

Ich will nicht lange um den heißen Brei herum reden: Unser Familienthema ist Autismus.

Das ist etwas, von dem ich mir sicher war zu wissen, dass autistische Menschen einfach nicht lieben können. Denn das hatte mir meine Mama erklärt, nachdem wir irgendwann einmal einen autistischen Menschen im Fernsehen gesehen haben.

Vorurteil: Autisten können nicht lieben

Dass dieses Vorurteil ziemlicher Bullshit ist, muss ich euch vermutlich nicht erklären. Trotzdem möchte ich darauf eingehen. Denn es hat Gründe, dass dieser Eindruck entstanden ist.

Aus meiner heutigen Sicht der Dinge kann ich sagen, dass alle autistischen Menschen, die ich kenne, ziemlich starke Gefühle haben – gar überwältigende. Die meisten dieser Menschen haben gemeinsam, dass sie eine andere Art und Weise haben, diese Gefühle zu zeigen oder zu äußern.

Oft verstecken sich die Gefühle hinter Aktionen, die für neurotypische Menschen (also Menschen, deren Gehirn wie bei den meisten anderen Menschen funktioniert) ziemlich absurd wirken können. Eine der möglichen Stressreaktionen bei Wut, Ärger, Enttäuschung ist zum Beispiel starkes Stimming. Das ist eine Ausgleichshandlung, die zur Selbstregulation angewandt wird. Das kann beispielsweise ein hin und her Wippen sein oder die Wiederholung einer anderen Bewegung.

Zuneigung durch Info-Dumping zeigen

Zuneigung, Sympathie oder die bloße Zuwendung zu einem Menschen kann manchmal durch leicht übergriffige Umarmungen (je nachdem ob der autistische Mensch das mag oder nicht) oder auch durch Info-Dumping gezeigt werden. Info-Dumping ist das Vollquatschen mit dem aktuellen Lieblingsthema. Das kann alles sein: Pflanzen, bestimmte Tierarten, eine Fernsehserie oder eine Sportart, die das Spezialinteresse des Menschen ist.

Das klingt alles eigentlich ziemlich leidenschaftlich, oder? Ist es auch. Denn wenn ein autistischer Mensch dich erstmal mag, dann kannst du dir seiner oder ihrer Loyalität ziemlich sicher sein.

Kampfkunst, ausgelebt im Elternschlafzimmer. Auch wenn ich es nicht so gerne mag, dass dort so heftig getobt wird, finde ich es irgendwie cool, dass die Kleine den Großen bei diesem krassen Sprung fotografiert UND unsere Familienfotografin das dann mit ihrer Kamera festgehalten hat. – Foto aus einer Day in the Life-Reportage von Anna Meyer-Kahlen aus Düsseldorf

Die Liebe meines Kindes

Ja und wie zeigt mein Kind mir Liebe? Manchmal durch eine lange, feste Umarmung. Manchmal auch dadurch, dass es sich seiner Wut völlig hingeben kann und bei mir den sicheren Hafen findet. 

Im Alltag sind es oft kleinere Gesten, die mir zeigen, dass wir uns wichtig sind. Wenn mein Kind mir Spielzeug zeigt und erklärt, wie es benutzt wird. Oder wenn ich an der Fantasiewelt teilhaben darf und erklärt bekomme, was es sich gerade ausdenkt, während es durchs Zimmer auf- und abläuft. Oder wenn das Kind Kampfkunst zeigt.

Ich durfte in den letzten Jahren viel über Liebe lernen. Denn es gibt nicht nur die offensichtlichen Zeichen, sie zu zeigen.

Autismus ist keine rein männliche Erscheinung

Du merkst schon, ich kann sehr viel über Autismus schreiben. 

Wichtig für dich ist: Für die meisten Menschen ist Autismus eine Behinderung. Manchmal ist sie unsichtbar, für geschulte Augen ist sie leichter erkennbar. Oft fallen Menschen mit dieser Eigenschaft als sonderlich auf. Das muss nicht als negative Sonderlichkeit gesehen werden. Aber leider ist es oft so. 

Ich will dir im Blog hin und wieder mehr darüber erzählen. Denn das Thema ist wichtig. Mindestens für alle Familien mit autistischen Familienmitgliedern. Aber auch für diejenigen, die ihnen im Alltag begegnen und sich womöglich über deren Verhalten wundern. 

Es gibt auch autistische Menschen, die ihr natürliches autistisches Verhalten eher unterdrücken, um “besser in die Welt zu passen”. Oft sind das weiblich gelesene Menschen. Aber darüber erzähle ich dir ein anderes mal mehr.

Danke für’s Lesen! Damit hast du deinen Horizont erweitert und weißt schon viel mehr über autistische Menschen als die meisten anderen.

Und was hat das alles mit Fotos zu tun?

Vielleicht nur ein bisschen. In erster Linie war es mir wichtig, dir etwas über mich zu erzählen. Außerdem möchte ich, dass du weißt, dass es in Ordnung ist, als Familie anders zu funktionieren.

Denn die Vorstellung davon, was Familienleben bedeutet, hatte für mich nichts damit zu tun, wie es wirklich ist. Und das finde ich eigentlich ziemlich super – auch wenn es bei mir gedauert hat, bis ich das so gesehen habe.

Und jetzt? Jetzt leben wir einfach bewusster, würde ich sagen. Wir buchen Doku-Familienfotografinnen, weil wir uns nicht für ein Foto verstellen wollen. Einige Beispiele seht ihr weiter oben auf den Bildern, die unseren Alltag zeigen. Ich finde, dass diese Bilder ziemlich gut zeigen, was uns wichtig ist und wie wir miteinander leben.

Als nächstes kommt eine liebe Kollegin zur Einschulung unseres jüngsten Kindes. Sie ist dann einfach unsere Freundin, die uns mit der Kamera begleitet. Und genauso LEBE ich das auch.